Martin Mosebach

„Ich bin ein Spätentwickler” 

Aber was für einer: Mar­tin Mose­bach ist sicher einer der bes­ten leben­den deutsch­spra­chi­gen Autoren

Nein, das hat er nicht gewollt. Nicht, dass er die Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ge­rin Elfrie­de Jeli­nek nicht mehr für „einen der dümms­ten Men­schen der west­li­chen Hemi­sphä­re” hal­te, aber als er dies damals in trau­ter Run­de daher­plau­der­te, hat­te er doch kei­ne Ahnung, dass ein anwe­sen­der Jour­na­list dar­aus prompt eine Mel­dung machen wür­de. Natür­lich ohne ihn vor­her zu fra­gen. Auf ein­mal stand der Schön­geist als Ver­bal­ra­bau­ke da. Dabei woll­te er doch bloß sein Unver­ständ­nis über die zu Stock­holm immer mehr nach Hartz-IV-Kri­te­ri­en erfol­gen­de Preis­ver­ga­be bekunden.

Die­ser Vor­fall ist für den Schrift­stel­ler Mar­tin Mose­bach der­ma­ßen unty­pisch, dass es bei­na­he an Unfair­ness grenzt, damit ein­zu­stei­gen – schließ­lich ver­strömt der Mann nicht nur Satz für Satz, son­dern beim Augen­schein auch Zoll für Zoll nichts als Kul­ti­viert­heit. „Das Gefühl, gut ange­zo­gen zu sein, ver­leiht dem Gemüt eine Ruhe, die die Reli­gi­on nicht geben kann”, fand der ame­ri­ka­ni­sche Phi­lo­soph Ralph Wal­do Emer­son; Mose­bach ist so erst­klas­sig gewan­det, dass sei­ne Sak­kos Feuil­le­ton­the­ma gewor­den sind, zudem ist er beken­nen­der Katho­lik und folg­lich wohl die Gemüts­ru­he selbst. Er mag es aller­dings nicht, wenn man über sei­ne Sak­kos schreibt. Also las­sen wir es – obwohl durch­aus Ver­knüp­fun­gen exis­tie­ren zwi­schen sei­ner Art, sich zu klei­den, und der, wie er for­mu­liert. Doch dazu gleich.

Der „begna­de­te Sti­list” („Neue Zür­cher Zei­tung”) und „gro­ße Erzäh­ler” („Rhei­ni­scher Mer­kur”), des­sen „Sprach­fer­tig­keit höchs­tes Lob ver­dient” (FAZ), hat sein Arbeits­do­mi­zil im Frank­fur­ter West­end, exakt dort, wo sein gleich­na­mi­ger Roman spielt, unterm Dach eines Alt­baus. Sei­ne Klau­se erreicht nicht ganz die Ele­ganz der hier pro­du­zier­ten Tex­te. Der Mann, der Sofa mit ph schreibt, hat nicht ein­mal eines mit f her­um­ste­hen (aber immer­hin ein Tele­phon). Wirk­lich Blei­ben­des, spricht die­se tem­po­rä­re Blei­be in ihrer teils bie­der­mei­er­li­chen, teils stu­den­ten­bu­den­haf­ten Nicht­re­prä­sen­ta­ti­vi­tät, gelingt allen­falls in eini­gen Tex­ten, und es wäre Unsinn, den ver­gäng­li­chen Ort sei­ner Ent­ste­hung dau­ernd aufzuräumen.

Über­dies ist Mose­bachs Elfen­bein­turm mobil und wur­zelt mal hier, mal dort in der Welt, der­zeit irgend­wo in Marok­ko. So ent­stand der teil­wei­se in Polar­nä­he han­deln­de „Nebel­fürst” in Indi­en, „West­end” auf Capri und das vor­wie­gend in Indi­en spie­len­de „Beben” wie­der­um in Kai­ro. Fern­ab der Hei­mat und der Hand­lungs­or­te bringt er die Erst­schrif­ten sei­ner Roma­ne zu Papier, per Hand übri­gens, und sei­ne klei­nen Buch­sta­ben rei­hen sich so regel­mä­ßig und flä­chen­fül­lend wie die Bartlöck­chen der Krie­ger auf assy­ri­schen Reliefs.

Im kal­li­gra­phi­schen Eben­maß spie­gelt sich der Stil des Schrei­bers. „Die lite­ra­ri­sche Geschick­lich­keit zeich­net sich dar­in aus”, notier­te der von Mose­bach geschätz­te kolum­bia­ni­sche Apho­ris­ti­ker Nicolás Gómez Dávila, „einen Satz bei gleich­blei­ben­der Tem­pe­ra­tur zu hal­ten.” Die Pro­sa des welt­kun­di­gen Frank­fur­ters besitzt genau die­se Wohltemperiertheit.

Bei­spie­le? Aber ja: „Es ist das unpas­sen­de Betra­gen der Pla­ta­nen, im Som­mer schon zu altern. Wie man­che Frau­en im Ori­ent haben sie, was die äuße­re Erschei­nung angeht, kei­ne Aus­dau­er.” – „Zu den moder­nen Ver­hält­nis­sen gehört, daß die Leu­te unge­zo­ge­ne, unge­wand­te Kin­der haben, denen ihre sport­li­chen, gro­ßen Kör­per und eine sprach­lo­se Muf­fig­keit etwas schwer Beweg­li­ches, Möbel­haf­tes geben.” – „Herr Herr prüf­te in dop­pel­ter Gestalt – denn ein Schä­fer­hund ist nichts ande­res als ein in einen Hund ver­wan­del­ter Haus­meis­ter – die Gar­ten­to­re.” – „Es war ihm in die­sen qual­vol­len nächt­li­chen Stun­den, die er wie ein Ein­bal­sa­mier­ter neben Doro­thée ver­brach­te, als lie­ge er schon in dem Mau­so­le­um sei­nes unter­ge­gan­ge­nen Glücks.” – „Die Ein­sam­keit umgab ihn mit einem wei­ten Man­tel, aus des­sen Fal­ten es flüs­ter­te.” – „Hier vor mir saß die Frau, eine gera­de­zu über­le­bens­gro­ße Schön­heit, im ver­trau­li­chen Gespräch mir zuge­wandt, und erwies mir die Gunst, sich von mir näh­ren zu las­sen.” Zei­le für Zei­le tri­um­phiert der hohe Ton über die letzt­li­che Bana­li­tät des Beschrie­be­nen. Nur lau­schen­de Jour­na­lis­ten erwi­schen den Sprach­meis­ter Mose­bach bei einem unge­schlif­fe­nen Satz.

Nament­lich die dia­log­über­frach­te­ten Bel­le­tris­tik-Impor­te aus Über­see haben hier­zu­lan­de die Idee auf­kom­men las­sen, die Sto­ry eines Romans sei wich­ti­ger als sein Stil. „Der Plot killt das Inter­es­se”, wider­spricht Mose­bach ach­sel­zu­ckend, „man weiß, wor­auf es hin­aus­läuft.” Über den Wie­ner Roman­cier Hei­mi­to von Dode­rer, einen sei­ner Haus­göt­ter, hat er geschrie­ben, nicht was in einer Stun­de gesche­he, son­dern was eine Stun­de sei, ver­such­ten des­sen Roma­ne zu fas­sen – und er sprach auch von sei­nen eigenen.

Mit ver­schwen­de­ri­scher Groß­zü­gig­keit gibt Mose­bach den Din­gen ihren Raum: 16 Sei­ten etwa für die Schil­de­rung eines zehn­mi­nü­ti­gen Strom­aus­falls in „Eine lan­ge Nacht”, sie­ben Sei­ten für die Betrach­tung eines bren­nen­den Holz­klot­zes, aus des­sen Mit­te plötz­lich Amei­sen her­vor­bre­chen („… wäh­rend eine Flam­men­mau­er den Scheit von allen Sei­ten zu umfas­sen begann, war die Auto­ri­tät der Köni­gin unge­bro­chen … Das Reich, das hier unter­ging, war nicht von innen her krank, son­dern gera­de jetzt beson­ders stark”). Es ist der schie­re Beob­ach­tungs­e­r­os, der sol­che Still­le­ben schafft, jedes ist ein klei­nes Raum-Zeit-Kon­ti­nu­um, und wer’s mag, wird dar­in selig.

Das bedeu­tet nun bei­lei­be nicht, dass in den Roma­nen nichts pas­sie­ren wür­de. In „West­end” etwa beginnt der Innen­ar­chi­tekt und Haus­freund des Immo­bi­li­en­mo­guls ein hoch gehei­mes Ver­hält­nis mit des­sen noch min­der­jäh­ri­gen Toch­ter, wäh­rend er zugleich des­sen Frau (die er eben­falls begehrt) Trost zuspricht, weil ihr Gat­te sie betrügt, der wie­der­um froh dar­über ist, dass ihm jemand sei­ne Fremd­gän­ge­rei durch sol­cher­art seel­sor­ge­ri­sche Betreu­ung erleich­tert – die­se Kon­stel­la­ti­on muss einer erst mal psycho- und erzähl­lo­gisch glaub­haft hinbekommen.

„Die Tür­kin” wie­der­um, ein nahe­zu novel­lis­ti­sches Erzähl­klein­od, han­delt von einer männ­li­chen Obses­si­on, die im der­zeit oft her­bei­me­ta­pher­ten Zusam­men­prall der Kul­tu­ren kühn anhebt und jäm­mer­lich ver­pufft. Der Prot­ago­nist folgt einer Maid von Frank­furt aus in ihre ana­to­li­sche Hei­mat, wo die Schö­nen bekannt­lich nicht so frei her­um­lau­fen oder gar ‑flir­ten dür­fen wie hier, und als es end­lich zum Stell­dich­ein kommt, voll­zieht sich eine Sze­ne von so unge­heu­rer Pein­lich­keit, dass sie sogar mit jener kon­kur­rie­ren könn­te, in der Italo Sve­vos ulti­ma­ti­ver Anti­held Zeno Cosi­ni drei Schwes­tern unmit­tel­bar nach­ein­an­der einen Hei­rats­an­trag macht.

Mose­bachs Werk umfasst inzwi­schen sie­ben Roma­ne sowie Erzäh­lun­gen, Gedich­te, eine ita­lie­ni­sche Rei­se und Essay­bän­de, in denen er sich gebil­det und kennt­nis­reich über Kunst oder – soeben erschie­nen – über „Schö­ne Lite­ra­tur” äußert; fer­ner eine Ver­tei­di­gung der alten, vor­kon­zi­lia­ri­schen Mes­se, wie sie der Rom­from­me mit Gleich­ge­sinn­ten in einer Frank­fur­ter Stifts­kir­che prak­ti­ziert. Die­se Streit­schrift bescher­te ihm übri­gens freund­li­che Post von einem Leser namens Joseph Kar­di­nal Ratz­in­ger, der sich vor­her bereits zu zwei Roma­nen brief­lich geäu­ßert hat­te. Außer­dem gehört zum OEu­vre des Frank­fur­ter Bohe­mi­ens irgend­wie auch das Gerücht, er habe etwas Ghost­wri­te­ri­sches oder sogar noch mehr mit Asfa-Wos­sen Asse­r­a­tes Best­sel­ler „Manie­ren” zu schaffen.

Kei­nes­wegs ver­ges­sen wer­den darf das gerüch­te­um­wo­be­ne, total ver­grif­fe­ne Thea­ter­stück „Rot­käpp­chen und der Wolf”, das im Sep­tem­ber bei dtv neu auf­ge­legt wird. In dem Vers­dra­mo­lett ver­gafft sich der Wolf, umrauscht von spre­chen­den Tan­nen und Flie­gen­pilz­chö­ren, in das rosi­ge Fleisch des Mäd­chens, und die eifer­süch­ti­ge Wöl­fin über­legt, ob sie sich rasie­ren soll­te, um den Gat­ten zurück­zu­er­obern. Zeu­gen haben in tie­fer Nacht an einem Was­ser­häus­chen beim Frank­fur­ter Stra­ßen­bahn­de­pot beob­ach­tet, wie der Ver­fas­ser sei­nem Schrift­stel­ler­kol­le­gen Eck­hard Hen­scheid schnaps­t­rin­kend und unter bei­der­seits nicht mehr bezähm­ba­rem Geläch­ter erzähl­te, diver­se Kri­ti­ker hät­ten ihm wegen die­ses Stücks beschei­nigt, er gehö­re offen­bar in die Klapsmühle.

Ansons­ten haben die Feuil­le­tons Mose­bachs Bücher in einem kon­ti­nu­ier­li­chen Cre­scen­do gelobt, kei­nes frei­lich der­art über­schwäng­lich wie den jüngs­ten Roman „Das Beben”. Dort ist wie­der die anschei­nend unüber­brück­ba­re Kluft zwi­schen den Kul­tu­ren Zen­tral­mo­tiv; dies­mal bil­det die indi­sche die Folie, vor wel­cher die euro­päi­schen Prot­ago­nis­ten frem­deln. Ein­gangs wird ein Archi­tek­tur-Guru, der an Frie­dens­reich Hun­dert­was­ser nicht nur erin­nert, auf so gött­lich-bos­haf­te Wei­se beschrie­ben, dass zu arg­wöh­nen ist, spe­zi­ell die­se für den Autor bis­lang eher unty­pi­sche Süf­fi­sanz habe die posi­ti­ven Reak­tio­nen noch befeu­ert. Soll­te es Mose­bach schließ­lich zu einer gewis­sen Zeit­geist-Rele­vanz gebracht haben?

Apro­pos Zeit­geis­te­rei: Dass ein eli­tä­rer Ein­zel­gän­ger, katho­lisch zudem sowie Aus­lö­ser von Sak­ko­qua­li­täts-Dis­kur­sen, mit der sei­ne Gene­ra­ti­on prä­gen­den 68er-Bewe­gung wenig am Hut haben kann, liegt auf der Hand. Aber damals, als jun­ger Jura­stu­dent, im Epi­zen­trum Frank­furt? Nein, wehrt Mose­bach ab, „die Ver­su­chung bestand für mich nicht einen ein­zi­gen Tag”. Mehr noch: „Wenn die­se Leu­te recht haben, besit­ze ich auf die­ser Welt kei­ne Exis­tenz­be­rech­ti­gung.” Er habe damals kei­ne Auto­ri­tä­ten demon­tie­ren, son­dern „wirk­li­che Auto­ri­tä­ten” fin­den wol­len. Sein Vater etwa, ein „voll­kom­men in der Poe­sie leben­der Arzt”, sei eine sol­che Weg­weis­erge­stalt gewesen.

Die Jah­re bis 30, in denen er fest­stel­len muss­te, „als Jurist voll­kom­men unbrauch­bar” zu sein, nennt Mose­bach sei­ne „Ver­pup­pungs­zeit”. Mit 32 ver­öf­fent­lich­te er sei­nen ers­ten Roman „Das Bett”, und wie die ägyp­ti­schen Hie­ro­gly­phen ohne erkenn­ba­re Vor­ge­schich­te auf der Sze­ne­rie erschie­nen, war auch Mose­bachs Stil plötz­lich da. Er sei, sagt er mit einem Lächeln, „ein alt­klu­ger Spätentwickler”.

Aber war­um sind die Prot­ago­nis­ten sei­ner Roma­ne alle­samt irgend­wie ver­krach­te Exis­ten­zen? „Weil ich im Grun­de auch eine bin.” Und die­se kat­zen­haf­ten Edel­fräu­leins, die in den Büchern auf­tre­ten? Eine beschreibt er mit den Wor­ten: „Als fest­stand, daß sie hei­ra­te­ten, war sie am nächs­ten Mor­gen bereits im Bett geblie­ben.” Die hin­rei­ßen­de Manon aus dem „Beben” etwa, gibt es die tat­säch­lich? Mose­bach nickt. Was hat sie zu dem Buch gesagt? „Aber sie liest doch kei­ne Bücher.” Ein paar Fla­schen Wein spä­ter preist er Anton Tschechow als „einen Gott”, Johann Peter Hebel als „gro­ßen Sprach­leh­rer” und setzt zu einer druck­rei­fen Steg­reif-Par­odie von Tho­mas Bern­hard an (des­sen Werk er, neben­bei, für eine „gro­ße Dumm­heit” hält). Kei­ne Fra­ge, der Mann ist ein Cau­seur höchs­ten Grades.

Und den­noch befin­det er sich gewis­ser­ma­ßen per­ma­nent auf dem Kriegs­pfad. Den Geg­ner hat der sanf­te Gue­ril­le­ro im Essay über die römi­sche Lit­ur­gie beschrie­ben. Es ist kein Gerin­ge­rer als „die Grund­stim­mung unse­res Zeit­al­ters”: ein „die gan­ze Öffent­lich­keit erfül­len­des Miß­trau­en gegen jede Art von Schön­heit und Voll­kom­men­heit”. Natür­lich bekämpft ein kul­ti­vier­ter Mensch die­sen Geg­ner nicht direkt. Er lebt nur ein­fach das Gegenteil.

Erschie­nen in: Focus 11/2006, S. 72ff.